Die Grenzen der Selbstorganisation in agilen Organisationen
Agiliät - ein alter Zopf
Mit dem Lean Management oder genauer gesagt, mit dem Toyota Production System hat in den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Auto-Industrie von Japan ein Umdenken begonnen.
Erstmals wurden in einer produzierenden Organisation die Autonomie der Arbeitsgruppe als Grundlage eines neuen Qualitätsdenkens eingeführt und durch konsequente Ausrichtung auf Kundennutzen alle unnötigen "Tätigkeiten" (Waste) weggelassen. Hierzu gehörte erstmals auch, Entscheide zu Abläufen und zur Qualität der Arbeiten direkt in den Arbeitszellen zu belassen. Dies hatte den Vorteil, dass Probleme schneller erkannt und behoben wurden, was sich wiederum positiv auf Qualität und Durchlaufzeit auswirkte. Was in Handwerksbetrieben ein normales Verhalten war, hielt nun auch Einzug in der Industrie. Der Mitarbeiter konnte mit seinem Wissen und seiner Erfahrung besser entscheiden, was für die der Zelle zugeteilten Arbeitsschritten das richtige war. Dieses Grundkonzept der Selbstorganisation wurde auch in die Software-Entwicklung überführt und ist dort als Agile Software Development mit Extreme Programming, Scrum und Kanban bekannt.
Agilität ist heute nicht mehr aus der IT wegzudenken. Sogar die letzten Unternehmen - gemäss Technology Adoption Cycle von Geoffrey Moore [1] die Late Majority und die Laggards - sind nun daran, agile Vorgehen und Strukturen in ihrer IT-Organisation einzuführen. Leider gelingt dies nur mit mässigem Erfolg, weil die Arbeit in einem selbstorganisierten agilen Team einen gewissen Willen und Bereitschaft eines jeden einzelnen voraussetzt, sich mit dem eigenen Verhalten auseinander zu setzen und Veränderungen selbständig anzugehen. Für Mitarbeiter, die sich gewohnt sind, jede Aufgabe und jede Änderung über die Vorgesetzten angeordnet zu erhalten und sich damit wohl fühlen, ist die Selbstorganisation eine grosse Herausforderung, die verunsichert und ängstigt.
Alter Wein in neuen Schläuchen
In vielen grossen und sehr grossen Unternehmen wird nach wie vor ein Mangagement-Modell aus der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts gelebt. In dem nach Frederick Winslow Taylor [2] benannten Taylorismus wird das Prinzip der Prozesssteuerung mit Arbeitsschritten beschrieben, in dem geistig und intellektuell anspruchsvolle Arbeiten von einfacher manueller Tätigkeit getrennt wurde. Gemäss diesem Prinzip sind viele Organisationen noch heute aufgebaut; das Management denkt und steuert und die Mitarbeiter führen aus. Mit dem Anstieg der Wissensarbeit in den heutigen Dienstleistungsbereichen zeigte es sich bald, dass die Mitarbeiter mehr über die fachliche Arbeit wussten als ihre Vorgesetzten, was diese in ein Dilemma führte.
Wie sollen sie Wissensarbeiter führen, wenn sie nicht mehr genau wussten, was die Mitarbeiter genau tun und brauchen?
Mit dem Auftauchen der Agilität wurde die Situation noch weiter verschärft, den jetzt sollen die Führungskräfte von Management auf Leadership umstellen, bei dem Mitarbeiter nicht mehr geführt, sondern entwickelt werden sollen. Selbstorganisation und Rollenwahl waren nun angesagt. Das Potential der Teams erkennen und besser ausnutzen war nun das Gebot der Stunde. Manch eine Führungskraft ist schier daran verzweifelt, all diese neuen Methoden und vor allem das neue Denken zu verinnerlichen und fällt bei kritischen Situationen immer wieder in sein altes Management-Verhalten zurück, bei dem er oder auch sie die Kontrolle übernimmt und klare Anweisungen zu geben beginnt. Und so stösst die Einführung von agilen Strukturen, Praktiken und Abläufen an die Grenze der organisatorischen Elastizität. Also an die eigene Fähigkeit, die notwendigen Änderungen in der eigenen Organisation umzusetzen, sodass agile Strukturen und Praktiken eine Chance haben, zu funktionieren und positive Resultate zu erzielen.
In einer agilen Organisation mit selbstorganisierten Teams kommt es unweigerlich zu einer höheren sozialen Interaktion. Was früher durch die klare Aufgabenteilung und -zuteilung nur auf dem informalen Weg vorkam, wurde nun zum relevanten Vorgehen und tragenden Element. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterhalten sich über Sinn und Zweckmässigkeit, über Probleme und Unzufriedenheit der Kunden und was besser gemacht werden müsste. Aus einer Einzelleistung wird nun Teamleistung und nur noch Teamleistung wurde bewertet. Somit ist es entscheidend, wie gross ein Team ist und wie es zusammengesetzt ist. Ein Team muss sich erst finden und durchlebt dabei unweigerlich die Phasen Forming, Storming und Norming bevor es in die Phase Performing kommt. Hierbei gilt es aber auch zu beachten, dass einerseits das Team nicht zu gross sein darf und die Zusammensetzung auch nicht dauernd geändert werden darf.
Klasse statt Masse
Besteht die Notwendigkeit, dass mehrere Teams gemeinsam für ein Ergebnis (Produkt oder Service) zusammenarbeiten müssen, gelten erhöhte Anforderungen an die Teamübergreifende Zusammenarbeit. Was bis hierher im Kleinen (Team) galt, gilt nun auch im Grossen (Team aus Teams), mit der Konsequenz, dass die Kommunikation und Koordination entsprechend anspruchsvoller ist. Die obere Grenze wird hierbei nicht durch Tools oder die Möglichkeit der Führung definiert, sondern schlicht und einfach durch unsere maximale Fähigkeit, mit wie vielen anderen Menschen wir eine Beziehung gleichzeitig pflegen können.
In einer tayloristischen Organisation ist es für die Arbeit nicht so wichtig, wie viele Beziehungen ich als Mitarbeiter zu anderen Mitarbeitern habe. Die Führung sorgt für die Koordination und die Kommunikation. In einer agilen und selbstorganisierten Organisation sind der Aufbau und die Pflege von Beziehungen gerade entscheidend. Denn wir sind hochentwickelte soziale Tiere, die sich dank der Fähigkeit, untereinander soziale Beziehungen aufbauen zu können, auch soweit entwickeln konnten.
Robin Dunbar [3] hat das Konzept entwickelt, gemäss dem Menschen im Schnitt 5 sehr intime Freunde haben, wozu auch die Familie gehört. Dazu kommen etwa 15 enge Freunde und 50 gute Freunde. Die Summe aller Freunde summiert sich dann auf rund 150. Warum wir nicht eine endlose Anzahl Beziehungen - auch wenn uns Facebook etwas anderes suggeriert - pflegen können, hängt damit zusammen, dass eine Beziehung eine kognitive Leistung erfordert.
Wir müssen uns den Namen und einige weitere Informationen merken und je näher die Beziehung zu einer intimen Freundschaft geht, umso höher ist der Investitionsbedarf in diese Beziehung; es braucht Aufmerksamkeit, Zeit und soziale Energie. Mit anderen Worten, die Beziehung muss mir wichtig sein. Daraus ergibt sich die einfache Erklärung, dass Teams sinnvollerweise nicht mehr als 15 Personen und Organisationsbereiche, die direkt zusammenarbeiten, nicht mehr als 150 Personen umfassen sollen.
Somit ergibt sich aus den Dunbar-Zahlen die zweite Grenze einer agilen Organisation. Wer diese nicht beachtet, wird schmerzlich lernen müssen, dass sie einfach da ist. Dass dies nicht neu ist, wurde schon im Manifest für agile Software-Entwicklung im ersten Wert festgehalten:
"Indivuals and Interactions over processes and tools"!
Autor: Ulrich Brawand